Die Zukunft der Freizeit

Weiße Weihnacht

Wie so oft war der Alexanderplatz in graues Nass getaucht. Kalter Wind peitschte Norbert Olden den Nieselregen ins Gesicht, als dieser das große Kaufhaus im Herzen der Stadt, in dem sich eine Meute Last Minute Käufer und vor allem Käuferinnen gegenseitig auf den Füssen stand, durch die Luftschleuse fluchtartig verließ.
Peng - rempelte ihn eine Blondine an, die wohl kurz vor Ladenschluss noch Weihnachtseinkäufe zu erledigen hatte. Im Vorrüberhasten murmelte das Mädchen etwas von Entschuldigung und war schon im Gewühl verschwunden.
- He, Sie! Rief Norbert noch hinterher, wie gern hätte er ein Gespräch angefangen, denn wann wird man schon von einem hübschen Mädchen angerempelt. Doch es war nichts zu wollen für Norbert Olden, in seiner kleidsamen, grauen Zweireiher - Kombination, die Kleine war weg und er zu schwerfällig oder vielleicht auch ein wenig feige? Warum hatte er nicht die Tüte mit der Flasche Maltwhisky fallenlassen und war ihr hinterher. Eine Flasche Malt gegen das entschuldigende Lächeln eines süßes blonden Wesens, die Einladung zum Kaffee hätte sie schwerlich ausschlagen können – nein, es war zu spät.
Nieselregen und 11°C, das würde keine Weiße Weihnacht geben. Eins dieser dreckigen orangebraunen Elektromobile surrte vorbei. Seit der Einführung der Emissionsneuregelung und der Leitstrahlnavigation, vor ein paar Jahren, prägten die „Schwebenden Eier“ das Stadtbild. Auf dem Heimweg kehrte Olden noch im Tabakladen ein. Eine Kiste Zigarren sollte es sein, dunkle brasilianische.
Richtig verwöhnen wollte sich Norbert zum Weihenachtsfest, dass er in diesem Jahr ganz allein, ohne Familie feiern würde. Gloria und die Kinder waren zu den Schwiegereltern gereist, was ihm ganz recht war.

Entspannt hatte er das späte Frühstück zelebriert. Er genoss die Ruhe im Appartement: keine Verpflichtungen. Um 11 Uhr 14 war er aufgestanden, hatte nicht geduscht, und den Tag in einem kleinen Café begonnen, indem er, wie zu Studentenzeiten, Milchcafe und Croissant genossen hatte.
Dieses Jahr wollte Olden einen Weihnachtsabend nach seinem Geschmack: ein Verwöhnprogramm für Männer im besten Alter, denen schon einige exzellente Genüsse zuteil geworden waren. Norbert musste an seine Vater denken, der oft von den kleinen Freuden des Lebens gesprochen hatte. Ohne Zweifel trat er hier und jetzt ein Erbe an. Und Zigarren gehörten zweifelsohne dazu. Norbert Olden, von Freunden auch Oldy genannt, entschied sich für ein mittelgroßes Format, dunkelbrauner Tabak mit feinem schokoladigem Aroma: „Regalia Fina – Saó Paoulo“ stand auf dem Etikett.
- Auf Brasilianischen Schenkeln gerollt, witzelte er noch in Richtung des freundlichen Tabakhändlers.
- Zwischen brasilianischen Schenkeln, gab dieser zurück und beide lachten.
Leider musste Olden, wenige Augenblicke später feststellen, das sich seine Brieftasche nicht mehr in der Innentasche seines modischen Kurzmantels befand. Und sie war auch nicht einer der fünfzehn Taschen seines zweireihig geknöpften Tweedoveralls, das er darunter trug. Oldy nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wo war das verdammte Ding, war er bestohlen worden oder hatte er das Etui im Kaufhaus verloren? Mit dem Barchip hatte er an der Etagenkasse vor einer Viertelstunde noch den schottischen „Malt“ erworben, weit wichtiger war jedoch sein Mobilelab, das wichtige Notizen, Daten und Adressen enthielt.
Glücklicherweise war der Tabakhändler ein guter Bekannter und ein wahrer Freund, wie sich jetzt herausstellte:
- Das soll kein Hindernis nicht sein, nicht heute,
ein feines Lächeln stand in seinem glattrasierten Gesicht, während er die Zahlungsanweisung ausdruckte.
- Nehmen Sie das brasilianische Rachengold und zahlen dann einfach online von zu Haus – Frohe Weihnacht, grüssen Sie Ihre hübsche kleine Frau!

Es war bereits dunkel als Olden aus dem Fahrstuhl trat. Ein wenig festliche Stimmung sollte schon sein, also dimmte er das Licht und entzündete zwei dicke Wachskerzen. Dann schälte er sich aus der Kombination und zog einen bequemen Hausanzug an bestehend aus dunkelblauer Hose mit Druckknöpfen und satiniertem Hausmantel. Um den Hals legte er ein weißes Seidentuch. Den Garautomaten stellte er selbst ein. Es gab flavorisiertes Eiweiß mit Lammgeschmack und grüne Klöße. Zu guter letzt wählte er im Mediacenter noch Swingmusik an.
Mit einem kleinen Seufzer ließ Oldy sich auf das Sofa fallen, legte die Füße hoch und goss sich ein Glas französischen Weißwein ein. Bloß keine Hektik aufkommen lassen, sagte er zu sich selbst. Er summte die Melodie und gab den Takt mit dem Fuß, gelegentlich nippte er am Weißwein, den er als süffig, mit fruchtiger Note, klassifiziert hätte. Einen Moment balancierte er die samtige Flüssigkeit auf der Zunge, bevor er das Quäntchen französisches Kulturgut den Rachen hinabgleiten ließ. So lässt es sich leben: wie Gott in Mitteleuropa, dachte er schmunzelnd.
Für den Abend hatte er sich verschiedene Optionen zurechtgelegt: vielleicht würde er ins Opernhaus gehen und danach in eine benachbarte Hotelbar besuchen, wo man ihn kannte, oder er traf seinen Freund „Clausen“ verabredungsgemäß in der „Bar du Paris“ im „Zentrum West“. Der Abend würde dann sicherlich in einem der nahen Sinnestempel enden, wo zierliche Taimädchen ihm den Rücken mit ihren grazilen Füssen kneten und Blondgelockte Blondinen sein bestes Stück mit roten Lippen liebkosen würden. Später könnte er entspannt mit den Damen bei einem Glas Champagner im Whirlpool lachen.
Doch vielleicht sollte er gerade heute Abend etwas wirklich Verwegenes unternehmen und anknüpfend an alte Zeiten, in denen Gloria seinen Weg gekreuzt hatte, das „Paillettensuite“ und die Lackstiefel, die noch immer irgendwo im Kleiderschrank lagerten, herauskramen. So gewappnet könnte er sich mit einem Taxi ins „Outcast“ fahren lassen, wo noch immer wilde Partys in alten Fabrikhallen tobten. Dort würde er alles einpfeifen was angeboten wurde und womöglich mit einem ausgeflippten Teeny auf dem Klo ficken.
Norbert runzelte die Stirn, in ihm keimten Zweifel ob ihm der „Suite“ noch passen würde. Tranquilo, ermahnte er sich selbst, du musst gar nichts – heute: es gibt keinen Plan. Der Weihnachtsabend war noch jung und so wippte er weiter den Takt mit dem Fuß und nippte am Wein.
Das Surren der Türklingel riss ihn aus seinen Träumereien. Mit einem Blick auf die Uhr die bereits 22 Uhr 43 zeigte, stellte er fest, dass er ein kleines oder eher ein großes Nickerchen gehalten hatte. Der Wandbildschirm, der jetzt aufflammte, zeigte einen Engel, der anscheinend unten in der gläsernen Luftschleuse vor dem Fahrstuhl stand. Norbert fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah noch einmal genauer hin. Dort stand ein Mädchen mit wallendem blonden Haar, in einem kurzen glockenförmigen Kleid und weißen Stiefeln. Flügel besaß sie auch, doch war sie wohl humanuid, denn sie trat von einem Fuß auf den anderen, vielleicht war ihr kalt, oder sie musste mal dringend für kleine Mädchen.
- Hallo, Sie wünschen junge Frau, sprach er das Wandbild, das von der Kamera im Eingangsbereich des Apartmenthauses erzeugt wurde, an.
- Herr Olden, sie hob den Kopf und schaute in die Linse der Kamera. Olden musste feststellen das sie ausgesprochen hübsch war.
- Ich – äh – bin von „Christmas Services“ und bringe ein Geschenk. Zur Bestätigung hob sie ein Zigarrenkistengrosses in rotes Satinpapier eingeschlagenes Päckchen in Richtung Kameralinse,
- Ich bringe ein Geschenk von einer guten Bekannten, ich bin der „Überraschungsengel“. Sie machte eine Art Knicks, was sehr süß, nein anmutig, aussah.
Oldy überlegte einen Moment. Welche Bekannte würde ihn beschenken – jemand aus der Firma, dem Freizeitclub? Sicherlich lag dem Päckchen eine Karte bei. Wenn er die Kleine nicht hereinließ, würde er es nie erfahren. Also drückte er den Knopf, das Wandbild erlosch und die LED-Anzeige über der Tür im Flur illuminierte das herannahen des Lifts. Norbert huschte noch ins Bad und fuhr sich eilig mit dem Kamm durch das dichte Haar, sprühte Mundwasser in den Rachen und richtete sein Halstuch. In der Küche tauschte er flugs das Wein gegen ein Whiskyglas und stellte den Garautomaten auf Standby: vielleicht würde das blonde Ding nach der Geschenkübergabe ja noch zum Essen beleiben. Dann positionierte er sich mit einem Glas „Malt“ in dem klobigen Ledersessel im weitläufigen Studioroom. Die Fahrstuhltür öffnete automatisch. Das rote Paket vor den Bauch gepresst, durchschritt das engelsgleiche Wesen den Flur und kam vor dem Sessel mit Norbert olden zum stehen, der, das Whiskyglas in der Hand wohlwollend lächelte. Seltsamerweise kam ihm das Gesicht des Mädchens bekannt vor, aber natürlich konnte er sich nicht entsinnen in welchem Zusammenhang sie ihm begegnet sein könnte. Graziös stellte sie das linke Bein zurück und führte eine Art Hofknicks vor, wozu die Flügelchen auf ihrem Rücken ganz entzückend wippten:

- Herr Olden ich bringe Ihnen Geschenke und einen Tanz von einer guten Bekannten die Ihnen folgende Zeilen schickt:

Ja! Mein Glück - es will beglücken –
Alles Glück will ja beglücken!
Wollt ihr meine Rose pflücken?

Müßt euch bücken und verstecken
Zwischen Fels und Dornenhecken,
Oft die Fingerchen euch lecken!

Denn mein Glück - es liebt das Necken!
Denn mein Glück - es liebt die Tücken! –
Wollt ihr meine Rose pflücken?

Nils Olden war erstaunt. Da hatte jemand seinen Nerv getroffen und Nietzsche zitiert?

- Danke, mein Fräulein - das war sehr schön und ich bin sehr gespannt, wer – welche geheimnisumwitterte Unbekannte mich so reich beschenkt.
Seine Rede kam ihm selbst etwas schwülstig vor, die Kleine machte ihn irgendwie nervös, wie sie so unschuldig vor ihm stand mit ihrem Kurzen Kleidchen, unter dem sich schlanke Beine bis zu Teppich reckten, keine zwei Meter von seinen Hausschuhen entfernt. Sie war wirklich von ausgesuchter Schönheit. Etwas wie ein Strahlen umgab sie, ein erotisches Knistern, das ihn mit unsichtbarer Hand in der Magengegend berührte.
- Leider kann ich den Namen ihrer Bekannten nicht weitergeben: sie möchte unerkannt bleiben, vermutlich hat sie ihre Gründe und eigentlich ist es ja auch viel reizvoller so!
– Soll ich jetzt mit dem Tanz beginnen?
- Ein Tanz?
- Ja, das eigentliche Geschenk: ein Tanz! Ich tanze für Sie!
- Oh ja, natürlich – gern – womit hab ich das verdient – nur zu, legen Sie los!
Das blonde Wesen ging zum Terminal des Mediacenter und steckte einen Musikchip in den dafür vorgesehenen Schlitz. Norbert war nicht recht bei der Sache, ihn beschäftigte immer noch die unbekannte Schenkerin, vielleicht seine Frau, eigentlich kam niemand Anderes in Frage, vermutlich hatte sie ihm die nette Unterhaltung geschickt, um ihn davon abzubringen sich herumzutreiben, ja ihr war so etwas zuzutrauen.
Geigenklänge erfüllten den Raum, Oboe und Harfe hörte Norbert heraus. Diese Musik kannte er nicht. Wunderbare Melodien: Sequenzen, Klänge; fiebrig, wie - Zigeunermusik oder jiddische Weisen, nur - viel langsamer; getragen, ja sanft. Nein - etwas Vergleichbares hatte er nie gehört.

Fortsetzung im Buch...

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